Schritt für Schritt, wie ein Puzzle

Lisa
April 4, 2024
Ich bin Lisa, bald 23 Jahre alt, leide seit meinem 15. Lebensjahr unter dem Lipödem im ersten Stadium und habe seit ca. 2 Jahren nicht mehr nur bei Berührungen Schmerzen, sondern auch  im alltäglichen Leben und ohne konkreten Auslöser.

Meine Diagnose stellte ich mir zunächst  selbst, da mein Arzt nichts davon wusste und die offizielle Diagnose erhielt ich dann mit 17  Jahren. Ich hab mich bereits in der Schulzeit immer gefragt, warum es mir so sehr wehtut, auf  den Holzstühlen oder auf den Kirchenbänken zu sitzen, warum es so arg schmerzt, wenn mich  ein Mitschüler zum Spaß in den Arm boxt oder ich am Reck lieber gleich eine 6 kassierte, bevor  ich mit meinen Oberschenkeln wieder schmerzhaft an die Stange knallte. Warum meine Beine  so oft blaue Flecken hatten, obwohl ich mich nirgends gestoßen hatte. Irgendwann bekam ich  meine Antwort mit der Diagnose „Lipödem“.

Als ich mir für diesen Artikel über das Thema Scham und Mobbing Gedanken machte, dachte ich zuerst „okay  ... Scham kenne ich nur zu gut im Hinblick auf mein Lipödem, aber Mobbing gab es zum Glück nie.” Doch dann musste ich noch mal gedanklich zurückspringen und meine Gedanken revidieren. Mobbing gab es sehr wohl, doch nicht unbedingt in der Schule von den „bösen“  Mitschüler*innen, sondern viel mehr im medizinischen Bereich. Mir wurde unterstellt, ich würde mir die Diagnose selbst aus Aufmerksamkeitsgründen gestellt haben, als würde ich die Kompression als Kassenleistung aus Spaß in Anspruch nehmen. Ich wurde zum größten Teil auf  mein optisches Erscheinungsbild reduziert, mir wurden Schmerzen abgesprochen, weil meine  Beine doch „noch gar nicht so schlimm aussehen“ und „ich als junge Frau möchte doch noch  mit einem Sommerkleid ansehnlich und hübsch aussehen“, was laut diesem Arzt mit einer Kompressionsversorgung nicht mehr möglich wäre (Spoiler: Ist es sehr wohl!). Ein Physiotherapeut  hatte mir trotz Rezept beinahe die Lymphdrainage untersagt, weil er der Meinung war, ich bilde  mir die Schmerzen nur ein. Anschließend meinte er dann doch, ich sei von „Gott bestraft“, weil  das natürlich ab jetzt nur immer schlimmer aussehen würde. Abgesehen davon, dass viele  dieser Gesprächspersonen scheinbar keine Ahnung von dem Krankheitsbild Lipödem hatten,  bin ich noch heute schockiert darüber, wie mit einer jungen Frau (damals mit einem 15-jährigen  Mädchen) umgegangen wurde und wie der Fokus dabei meist auf der Optik und nicht auf den Schmerzen lag.

Diese Unterhaltungen waren jedoch nur ein weiteres Puzzleteil, welches die Schamgefühle  immer größer werden ließen. Nicht nur habe ich mich immer weniger ernst genommen gefühlt,  sondern ich wurde auch immer unsicherer mit meinem eigenen Erscheinungsbild. Im Sommer  rieben meine Oberschenkel schmerzhaft aneinander, die Wärme brachte auch weitere Symptome  wie schwere und ziehende Beine mit sich und in Kleidern fühlte ich mich ab einer gewissen  Länge total unwohl. Ich weiß, dass es für viele Betroffene schwer sein kann, das nachzuvollziehen (auch für viele Nicht-Betroffene), denn ich bin erst im ersten Stadium. Doch wenn ich selbst zu Beginn der Krankheit mit wirklich unangebrachten und verletzenden Kommentaren  konfrontiert wurde, möchte ich mir nicht ausmalen, wie es anderen ging. Ich schämte mich für  die Form meiner Beine, für den größeren Umfang und die Angst davor, was andere über mich denken. Auch für diesen Gedanken schäme ich mich, denn was sagt das über meine eigene Wahrnehmung aus? Wieso sollen meine Beine für andere weniger schön sein, nur weil sie mehr Umfang haben? Wieso müssen sie überhaupt für ANDERE irgendwas sein? Ich schämte mich vor neuen Partnern, weil ich das Gefühl hatte, sie nehmen mich nicht ernst, sie finden mich so nicht attraktiv oder glauben mir nicht, dass selbst kleinste Berührungen Schmerzen hervorrufen. Auch für die Kompression schämte ich mich zu Beginn. Ich bin eine sehr modeaffine Person, die sich gerne über ihre Outfits ausdrückt. Eine komplette Kompressionsversorgung der Beine  war mir dabei zuerst im Weg. Doch auch damit lernte ich umzugehen, meine Outfits darauf abzustimmen und dazu zu stehen.  

Auch im Freundeskreis schämte ich mich manchmal für die Einschränkungen, die ich durch  mein Lipödem habe. Ich kam nicht mit auf Wanderungen aus Angst, ich könnte es nicht schaffen, so lange auf den Beinen zu sein. Bei der Arbeit fällt es mir schwer, lange zu sitzen, aber auch lange zu stehen, und das mit nur 22 Jahren. Scham ist oft meine ständige Begleiterin, aber sie macht sich mittlerweile weniger bemerkbar, umso mehr ich lerne, zu mir und der Krankheit zu stehen und auch was dafür zu tun.

2022 thematisierte ich dieses Thema, was unter die „Mobbing“-Kategorie fällt, in meinem Bachelorprojekt „LIP OH DAMN“. Nach Veröffentlichung des Projektes meldeten sich zahlreiche  Betroffene bei mir und erzählten mir von Ihren bösen Kommentaren, die sie sich bereits anhören mussten. Selbst bei dem Videodreh kam eine fremde Passantin vorbei, stieg von ihrem Fahrrad ab, um unseren Models mitzuteilen: „Sie haben aber Glück, dass sie nicht in Natura so aussehen“. Die Visualisierung der Krankheit in abstrakte Modestücke empfanden viele als sehr anschauliches Mittel, die Schmerzen für andere sichtbar zu machen.

Mit solchen Kommentaren umzugehen fällt mir noch immer nicht leicht und das wohlgemerkt  bei sicherlich noch „harmloseren“ Aussagen, aber sie verletzen mich, vor allem wenn kein Verständnis da ist, sondern rein über die Optik Vorurteile und Vermutungen angestellt werden. Ein großes Problem in meinen Augen ist dabei einerseits die Unbekanntheit der Krankheit, aber  auch eine große internalisierte Fettphobie, mit der unsere heutige Gesellschaft ausgestattet ist.  Alles, was nicht in ein „perfektes Erscheinungsbild“ passt, wird auch in Zeiten der vermeintlichen „Diversity“ nicht gerne gesehen und verurteilt.

Umso schöner ist es, zu sehen, dass die Communities oft untereinander sehr unterstützend  und liebevoll sind (Ausnahmen gibt es natürlich auch hier). Was mir also sehr dabei geholfen  hatte, war mein Bachelor-Projekt, denn damit habe ich versucht, über die Krankheit Lipödem  aufzuklären, sodass es auch nicht Betroffene leichter haben, die Symptome und die Auswirkungen zu verstehen, um so mit einem offeneren und vielleicht auch weniger wertenden Blick durch die Gegend zu laufen. Es hat mir geholfen, dazu zu stehen, dass ich eine von vielen Betroffenen bin. Ich stehe hinter meinen Gefühlen und Empfindungen und kämpfe für die Entstigmatisierung.

Das ist nicht immer leicht und manchmal fehlt mir die Kraft dazu, aber alleine der Gedanke,  dass durch mehr Aufklärungsarbeit eventuell auch in der Medizin mehr Entwicklung und Fortschritt angestoßen werden kann und Betroffene dadurch früher zu Ihrer Diagnose und Hilfe  kommen, macht die Sache wieder etwas leichter. Ich arbeite daran, mich selbst Schritt für  Schritt mehr zu akzeptieren und mir und meinem Körper die Zeit zu geben, die er braucht. Mein  Körper ist mehr als nur eine optische Erscheinung für andere, er arbeitet täglich und kämpft mit  und für mich gegen diese Krankheit an.

Ich hätte mir gewünscht, dass meine Gynäkologinnen, aber vor allem auch meine Hausärzte  besser aufgeklärt gewesen wären und bei meinen Beschwerden den Verdacht eines Lipödems  in Betracht gezogen hätten.

Ich hatte das Glück, selbst bereits ein paar Infos über die Krankheit  Lipödem zu haben, da Lipödem in meiner Familie bereits aufgetreten ist. Durch viel Eigeninitiative wurde ich dann endlich an einen Phlebologen überwiesen und auch für die Kompression musste ich selbst kämpfen, um den Arzt von den Vorteilen zu überzeugen. Ich bekam zu spüren, dass dieses Krankheitsbild für sie komplettes Neuland war. Ich hätte mir gewünscht, dass sie sich immerhin nach meinen Hinweisen auf diese Krankheit weiter damit beschäftigen oder sich informieren, doch auch das ohne Erfolg. So kam es eigentlich nie dazu, ihnen Fragen stellen zu wollen, denn ich musste sie mir durch Recherchen selbst beantworten. Ich würde mir prinzipiell wünschen, dass viel mehr dazu geforscht wird, dass Studien verständlich und zugänglich aufbereitet werden und medial immer weiter und mehr darauf aufmerksam gemacht wird, was auch ein Ziel meines Projektes „LIP OH DAMN“ war.

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